Südtirol im Stand-by-Modus: Österreich öffnet Grenzen nach Deutschland
Sebastian Kurz hat sich während der Coronakrise als Wortführer etabliert. Als jemand, der eine starke Hand beweist, aber trotzdem im richtigen Moment die richtigen Töne anzustimmen wusste. Wie Giuseppe Conte in Italien, Angela Merkel in Deutschland, aber auch Arno Kompatscher in Südtirol und im Gegensatz zu Emanuel Macron in Frankreich und Boris Johnson in Großbritannien wusste der junge österreichische Bundeskanzler mit einer klaren Linie und mit etwas, das einer inszenierten One-Man-Show sehr nahekommt, zu glänzen. Doch nun, in der Zeit, wo sich einige Länder in der sogenannten Phase zwei befinden und die ersten Gedanken aufkommen, die Normalität nicht nur innerhalb der eigenen Grenzen, sondern europaweit wieder einkehren zu lassen, hält sich Kurz ungewohnt zurückhaltend, ja sogar relativ kurz angebunden.
„Wir sind keine Hellseher“, war die Antwort auf die Frage, wenn er doch die Grenzen nach Italien wieder öffnen würde. Das mutet umso erstaunlicher an, sind doch in den letzten Tagen laut Medienberichten die Grenzöffnungen zu zahlreichen anderen Ländern, darunter auch Deutschland, diskutiert worden. Und sogar ein Datum zu einer möglichen Grenzöffnung wurde festgelegt: Ab 15. Juni sollen Deutsche und Österreicher wieder ohne größeren Aufwand ins jeweilige Nachbarland reisen dürfen. Nur gegenüber Italien hält man sich noch zurück.
Ischgl, der Corona-Multiplikator
Gerade die Übereinkunft Österreichs mit Deutschland lässt bei manchem vor Überraschung langsam die Augenbrauen gen Himmel wandern. Den laut dem Statistikportal Statista geben Tausende deutsche Touristen an, sich den Virus wohl während ihres Skiurlaubs in Ischgl geholt zu haben. Das österreichische Skiparadies, das vor Corona besonders wegen seiner ausschweifenden Apres-Ski-Partys weltweit einen hervorragenden Ruf genoss, stand für einige Zeit neben dem Champions League-Spiel in Mailand zwischen Atalanta Bergamo gegen Valencia am 19. Februar sinnbildlich für die Verbreitung des Virus auf dem ganzen Kontinent.
Diesen fragwürdigen Symbolcharakter holte man sich auch nicht von ungefähr: Während zum Beispiel in Südtirol aufgrund der prekären Lage in der Lombardei und im Veneto die Skigebiete schon am 11. März den Betrieb frühzeitig einstellten, schlossen in Ischgl an jenem Tag erst die Gastrobetriebe. Und erst nachdem bekannt wurde, dass sich zahlreiche Gäste in einer Bar angesteckt hatten, in der ein infizierter Barkeeper arbeitete. Klar, Österreich hat die Pandemie grundsätzlich nicht so hart getroffen, aber gerade Ischgl mit seinen Touristen aus der ganzen Welt, konzentriert auf engem Raum in den Schirmhütten, sollte sich als hervorragender Nährboden für das Virus und dessen Verbreitung laut Verbraucherschutzzentrum in etwa 45 Ländern erweisen. Tatsächlich haben sich 5.000 Skitouristen zu einer Sammelklage gegen den Staat Österreich wegen krimineller Fahrlässigkeit zusammengetan.
Will sich Österreich der Konkurrenz entledigen?
Während der Staat Österreich – um auf die Hellseher-Worte von Kurz zurückzukommen – in diesem Fall wenig Weitsicht bewiesen hat, sehen viele die jetzige Einstellung zu den Grenzöffnungen als zu streng an. Nicht wenige sehen darin politisches Kalkül, wie zum Beispiel Heidy Kessler, Chefredakteurin von RAI Südtirol, in einem Kommentar andeutet: „Man kann in der Verfestigung der Brenner-Grenze, den Beweis dafür sehen, dass Südtirol für Österreich doch keine Herzensangelegenheit ist. Oder den Beweis dafür, dass sich Österreich auf dem touristischen Markt elegant der Konkurrenz entledigt.“ Doch wie auch Kessler später weiter ausführt („Frau braucht keine Prophetin zu sein, um zu erkennen, dass für diese Forderungen immer mehr Verständnis aufkommen wird. Ist doch die italienische Realität mehr als düster: Italien ist eines der wenigen Länder, dem es nicht gelingt, das Virus in den Griff zu kriegen.“), ist das nicht die ganze Wahrheit oder wenn, dann nur ein Bruchteil der Begründung.
Italien ist aus der Krise noch lange nicht draußen. Während der Stiefelstaat erst langsam Lockerungen zulässt, haben Österreich und Deutschland noch nie auf solch strenge Maßnahmen zurückgreifen müssen und trotzdem das soziale und wirtschaftliche Leben schon vor Wochen wieder hochgefahren. Maskenpflicht herrscht in Deutschland nur in geschlossenen öffentlichen Räumen wie Autobussen oder Supermärkten.
Südtiroler Alleingang nicht denkbar
Natürlich werden nun Stimmen laut, dass in Südtirol keine italienischen Verhältnisse (mehr) herrschen. Nichtsdestotrotz war gerade die Provinz Bozen eine der im Verhältnis zur Bevölkerung am schwersten getroffenen Zonen. Eine Tatsache, die an zahlreichen Südtirol-Liebhabern in Deutschland nicht vorbeigegangen ist, wie sich in zahlreichen Foren zeigt, wo von einigen Kommentatoren teilweise gar zum Boykott aufgerufen wird.
Ein weiterer Alleingang der Südtiroler Landesregierung wäre in diesem Fall auch nicht ratsam. Schon mit dem eigenen Landesgesetz zur vorzeitigen Wiedereröffnung hat man sich in Rom nicht viele Freunde gemacht. Und die Reaktion auf eine Öffnung der Grenze zu Österreich, während an der Salurner Klause weiterhin Durchgangsverbot herrscht, würde zwar den Puls vieler Sezessionisten auf Betriebstemperatur bringen, aber für das gestörte Verhältnis mit dem Palazzo Chigi nicht gerade fördernd sein. Das Fiasko, das darauf folgen könnte, könnte Dynamiken auslösen, die eine weitere, dieses Mal schwere politische Krise sehr wahrscheinlich machen.
Schuler fordert europäische Lösung
Doch aus den Reihen der Landesregierung lassen sich diplomatische Töne vernehmen. Tourismuslandesrat Arnold Schuler sei vom Vorgehen Berlin-Wien zwar auch nicht begeistert, doch solle seiner Meinung nach eine europäische Lösung angestrebt werden, wie er im Morgengespräch bei RAI Südtirol hervorhob: „Ansonsten kommt es zu einseitigen Öffnungen und das macht es kompliziert, denn die Gäste kommen aus unterschiedlichen Ländern Europas und dazwischen liegen manchmal mehrere Grenzen.” Gerade die EU hat aber während der Notsituation nicht durch konsequentes Vorgehen und hervorragendes Krisenmanagement von sich reden gemacht. Und der sich abzeichnende Hang, sich in Zukunft wieder mehr lokal zu orientieren, hat nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch an Fahrt aufgenommen.
Der Verdruss der Tourismus- und Gastbetriebe hingegen ist mehr als verständlich. 11,2 Millionen Nächtigungen von Reisenden aus dem Kernmarkt Deutschland zählte das Landesinstitut für Statistik ASTAT im Sommerhalbjahr 2019, was rund 50 % des gesamten Aufkommens ausmacht. Der zu erwartende Einbruch diesen Sommer kommt sogar bei einer baldigen Grenzöffnung für viele Betriebe des Sektors nichtsdestotrotz einem Gnadenstoß gleich.
Es bleibt abzuwarten, wie sich die Situation in den nächsten Wochen entwickelt. Die Coronakrise hat gezeigt, dass Entscheidungen und Lösungen nicht immer einer langen Anlaufphase bedürfen. Nichtsdestotrotz ist von allen Seiten eine Menge Fingerspitzengefühl gefragt. Ansonsten reiht sich demnächst eine Krise an die andere, was Südtirol, Italien und ganz Europa in einen Strudel bringt, aus dem es schwer sein wird, sich wieder zu befreien.