Die „beiden“ Alexander Langer: die leichte Reise auf der Suche nach seinen jüdischen Wurzeln

Der Doppelschlag der Glocken brennt diesen Moment eindeutig in mein Gedächtnis ein. Die Sonne versucht, sich durch die Wolken zu kämpfen, der Wind trägt einen Hauch Schnee mit sich, drei Namen stehen in Gelb auf einem schwarzen, schmiedeeisernen Kreuz: Artur, Elisabeth und Alexander Langer. Es ist Dienstag, 11:30 Uhr und auf dem kleinen Friedhof neben der Kirche von Telfes endet eine Reise, die vor einigen Tage begonnen hat, als ich den Schlüssel im Torschloss eines Friedhofs herumdrehte, der nicht viel größer als dieser ist. Auf demselben jüdischen Friedhof in Meran liegt ein anderer „Alexander Langer“ begraben, nämlich der Vater von Artur und Großvater des gleichnamigen Abgeordneten der Grünen. Als ich mit dem Bus von Telfes nach Sterzing zurückfahre, nehme ich erneut das Exemplar von „Der leichte Reisende“ zur Hand, das ich seit über einer Woche bei mir trage. Ich lese zum x-ten Mal die ersten Seiten, die Langer geschrieben hat:

„Warum geht Papa nie in die Kirche? Aufgewachsen in Sterzing (950 m ü.d.M., 4.000 Einwohner), in einer demokratisch bürgerlichen Familie, die zu Hause Deutsch anstelle des Südtiroler Dialekts spricht und in der eine sehr respektvolle und tolerante Atmosphäre herrscht, stört es mich sehr, dass mein Vater nie in die Kirche geht. Eines Tages, meinen Geburtstag ausnutzend, traue ich mich, meine Mutter darüber zu befragen. Ich fühle mich etwas schuldig, gleich wie auch dafür nicht Dialekt zu sprechen. Da Papa den ganzen Tag, und zwar jeden Tag, im Krankenhaus arbeitet, dient er Gott auf andere Weise (er war der einzige Chirurg in der Gegend). Der Kaplan wird dir bestätigen, dass es damit gut ist. Der Kaplan, ein tschechoslowakischer Priester im Exil, bestätigt es mir. Etwas später erklärt mir meine Mutter, dass mein Vater jüdischen Ursprungs ist, und dass es nicht wichtig ist, was man glaubt, sondern was man im Leben tut. Sie gehört in diesen Jahren als unabhängig Gewählte der deutschen Liste der Südtiroler Volkspartei dem Stadtrat an, gibt ihr Amt aber bald ab, als sich das Klima verschlechtert und die Forderung, Antifaschisten in der Liste zu haben, nicht mehr so dominiert.“ Dies ist eine der sehr wenigen Texte, in denen Langer von seiner Familie erzählt; von seiner jüdischen Herkunft schreibt er noch weniger.

Ich treffe mich mit Edi Rabini, der Seele der Langer-Stiftung, um mehr zu erfahren: „Alex“, beginnt er zu erzählen, „war sehr zurückhaltend. Er erzählte fast nie etwas über seine Familie. Aufgrund eines Briefes, der 1985 in einer Trientner Zeitung abgedruckt wurde, war er gezwungen, öffentlich über seine jüdischen Wurzeln zu sprechen.“

Rabini gibt etwas in seinen Laptop ein und holt eine Kiste mit Material über die Klage hervor, die Langer gegen jene Zeitung führte, die einen Brief von einem gewissen Dr. Karl Saltner veröffentlicht hatte. „Ein Schreiben,“ schrieb Langer, „das mich sehr schwer beleidigt und verleumdet. Es gipfelt in der Behauptung, ich sei ein Feind der deutschsprachigen Südtiroler und würde, als Sohn eines Juden, deren Beseitigung wünschen, um auf diese Weise intelligente Rache auszuüben […] Eine Person aufgrund ihres Blutes einer bestimmten politischen Richtung zuzuordnen, war der Gipfel der nationalsozialistischen Propaganda. Sie teilte, wie wir wissen, die Welt in Arier (jene, die ehrlich und rein sein sollten und daher zur Herrschaft bestimmt waren) und Nichtarier (jene, die als Schande der Menschheit festgelegt wurden, als Untermenschen, die mit Eisen und Feuer zu vernichten sind). Ich glaube, ich brauche dieses Thema, das zum bürgerlichen und moralischen Erbe jedes Demokraten zählt, nicht weiter zu erörtern.“ Bezüglich seiner jüdischen Herkunft erinnert Langer nur an seinen israelischen Vater: „Er wurde 1938 unter dem faschistischen Regime aus dem Sterzinger Krankenhaus entlassen und anschließend von den Nazis verfolgt. Wie durch ein Wunder konnte er bis zu Italiens Befreiung von Faschismus und Nationalsozialismus überleben.“

Der Rest der Mappe enthält das Urteil, das Langer Recht gab, und zahlreiche Solidaritätsbriefe, von denen sich jener von Piero Siena (Gründer des Museion) und Marco Pannella hervorheben. Bevor ich gehe, rät mir Rabini, Kontakt mit Gad Lerner aufzunehmen: „Ich kann mich an ein Gespräch erinnern, in dem Alex ihn anhielt, seine hebräischen Wurzeln zu erforschen. Vielleicht weiß er ja mehr.“ Ich nehme seinen Rat an und erhalte sofort Antwort von Lerner: „Stimmt, Alex erzählte mir, dass sein Vater jüdische Wurzeln hatte und dass seine Frau bewusst versuchte, ihn zu schützen. Aber mehr kann ich dir dazu nicht sagen. Ich erinnere mich an keine Einzelheiten. Sicherlich hütete Alex auch diese Komponente als ein wertvolles Stück des Mosaiks, das seine Identität bildete.“

Da Archivio storico della città di Bolzano

Eine exaktere Rekonstruktion der Geschichte der Familie Langer erlaubt das Buch „Mörderische Heimat“ (Raetia), das die Aussage von Peter enthält, einem der beiden kleineren Brüder von Alex: „Nach dem Inkrafttreten der Rassengesetze verlor mein Vater Artur mit 38 Jahren seine Chefarztstelle im Krankenhaus von Sterzing. Er wurde dadurch urplötzlich arbeits- und staatenlos und war gezwungen, das Land zu verlassen.“ Die Flucht, so die Autoren Sabine Mayr und Joachim Innerhofer, führte Artur und seinen Bruder Erwin nach Malcesine an den Gardasee, wo sie kurzfristig Ruhe fanden. Nach erneuter rassistischer Verfolgung verbargen sich die beiden Brüder zuerst in der Toskana, in Figline Valdarno (dort konnten sie bis Ende Februar 1944 bleiben), und flohen schließlich in die Schweiz. Am 3. März 1944 überquerten sie die Grenze zur Schweiz und blieben dort bis Kriegsende.
„Artur war 44 Jahre alt, als er nach Sterzing zurückkehrte“, schreiben die Verfasser. „Dort kam niemand, um die amerikanischen Truppen zu begrüßen. Elisabeth war die einzige, die sie mit einer Fahne des Roten Kreuzes willkommen hieß. Endlich ermöglichten es ihnen die Umstände, zu heiraten [Anm. d. Verf.: Verliebt hatten sie sich bereits vor über zehn Jahren]. Elisabeths Eltern verlangten jedoch eine kirchliche Trauung. Dagegen hatte Artur nichts, jedoch war er Jude und deshalb weder getauft noch gefirmt.“ Darum kümmerte sich der Pfarrer von Telfes. Die Hochzeit fand schließlich am 18. Juni 1945 statt. Der Erstgeborene, Alexander, erblickte am 22. Februar 1946 in Sterzing das Licht der Welt.

Artur starb im Jahr 1974. Peter erzählt: „Er wollte nicht im Familiengrab von Sterzing begraben werden, weil dort auch Verwandte lagen, die sich während des Krieges unehrenhaft verhalten und die Verbindung von Artur und Elisabeth nicht gebilligt hatten. Der Wunsch meines Vaters war es, in einer Urne begraben zu werden. Und erneut war es ein Pfarrer von Telfes, der ihm dabei half, obwohl die Kirche damals Feuerbestattungen noch nicht gestattete. Auf diese Weise wurde er auf dem Friedhof von Telfes nach seinen Wünschen begraben.“

Vor diesem Grab, in dem heute auch seine Frau Elisabeth und sein Sohn Alexander bestattet liegen, hinterließ ich vor einigen Tagen meine Fußspuren im Schnee. Demselben Grab, auf dem andere Besucher nach jüdischer Manier einige Steine abgelegt haben. Aber, wie ich vorwegnahm, begann meine Reise an einem anderen kleinen Friedhof, dem „Neuen Jüdischen Friedhof“ von Meran. Dort, im Grab 112, auf dem Feld 4, ist Alexander Langer bestattet, Vater von Artur und Großvater von Alex, Peter und Martin. Es ist notwendig, sich den Schlüssel zum jüdischen Museum zu besorgen, um Zugang zu erhalten; der Bereich ist videoüberwacht. Die Gründe dafür sind leicht zu erahnen und ausgesprochen beschämend.
Ich öffne das Tor, schließe es hinter mir und schreite zwischen den Gräbern entlang auf einem dichten Teppich gefrorener Blätter. Wie alle jüdischen Friedhöfe besteht er aus Grabsteinen, wovon einige schief, andere von üppiger Vegetation bedeckt sind. Eine Tafel weist auf Deutsch darauf hin, dass auf diesem Friedhof Alexander Langer begraben liegt: „Großvater des Politikers Alexander Langer. Geboren in Olmütz, lebte er mit seiner Frau Ida Altar in Wien.“ Für weitere Hintergründe greife ich erneut auf „Mörderische Heimat“ zurück: „Der Sohn von Julie Knöpfelmacher und Sigmund Langer, Alexander, zog mit seiner Frau Ida Altar, geborene Tochter von Charlotte Goldschmitt und Martin Altar, die wie er ebenfalls in Olmütz geboren wurde (am 15.9.1871), nach Wien. In Wien wurden die Kinder Erwin (1895), Margit (1896) und Artur (1900) geboren.“ Zusätzliches Material fand ich in den Onlinearchiven der Gemeinde Olmütz und denen von Bozen.

Alexander Langer wurde am 14. Dezember 1867 geboren. Er heiratete Ida Altar am 2. September 1894 in Olmütz. Im nächsten Jahr zogen sie nach Wien in die nahe der medizinischen Fakultät gelegene Berggasse Nr. 8. Dort wurden Erwin, Margit und Artur geboren. Nach dem Ersten Weltkrieg zog die Familie erneut um, diesmal aus gesundheitlichen Gründen nach Bozen. Alexander war während der Kriegsjahre erkrankt und es war zweckmäßig, das Klima zu wechseln. Laut den Akten der Einwanderungsbehörde des Gemeindearchivs fand der Umzug in die Elisabethstraße 606, Gries, offiziell am 15. Juni 1917 statt (heutige Montellostraße). Alexander starb fünf Jahre später, am 24. August 1922. (Leider konnte ich über diese und die nachfolgenden Jahre, die seine Frau Ida betreffen, keine weiteren Informationen ermitteln).

Ich schließe das Tor des jüdischen Friedhofs, gehe zum Bahnhof und vergewissere mich, dass sich noch immer das Buch „Mörderische Heimat“ in meiner Tasche befindet. Während ich auf den Zug warte, sehe ich erneut hinein und schlage die Seite auf, deren Ecke ich umgeknickt hatte. Auf der Seite beginnt mein liebstes Kapitel. Sein Titel ist: „Die Hoffnungen der vielen Soldaten Schwejk“. Es beginnt so: „Die Rückkehr zu den wahren oder vermeintlichen Wurzeln scheint das charakteristische Merkmal dieser letzten Jahre zu sein. Aber ist dieser Wunsch nach Identität und Wurzelschlagen als Ablehnung der Moderne und als Verlangen zu deuten, die Vergangenheit irgendwie erneut aufleben zu lassen, oder stellt er einen möglicherweise unsteten Weg dar, eine Moderne vollständig zu akzeptieren, deren Bedingungen nun einmal weltumfassend und nicht zu diskutieren sind?“

Unbewusst stelle ich mir die Frage, welche Beziehung der „politische“ Alexander Langer zu seinen hebräischen Wurzeln besaß. Beschäftigte er sich privat mit ihnen oder ignorierte er sie lieber? Persönlich war mir weder das eine noch das andere möglich, weil diese Wurzeln in unterschiedlichen Konfessionen enden, in unterschiedlichen Ländern, in Flucht und Rückkehr. Nur dem sich Bewegenden wird die Frage gestellt, wohin er geht, nur dem Grenzen Überschreitenden, woher er kommt. Der ängstlich im Mauerschatten Kauernde redet mit sich selbst oder befragt eine Betonwand, die nicht antwortet. Wer jedoch im Exil lebte, weiß, dass Identität auch Papier ist, auf das sich alles schreiben lässt.

Apropos Schriften: Im Juli 1995 rekonstruierte Franca Selvatici in der Tageszeitung „Repubblica“ den letzten Tag im Leben von Alexander Langer. Zu diesem Zweck beschrieb sie die letzten Telefonate und die Strecke vom Haus in Florenz bis nach Pian dei Giullari: „Hier, in der Stille eines Sommertages, schrieb er seiner Frau und seinen Freunden und las in einem Gebetbuch auf Hebräisch und Französisch. Anschließend stieg er aus dem Auto aus und ging die wenigen Meter bis zum Aprikosenbaum.“ Ich habe ohne Erfolg versucht herauszufinden, welches hebräische Gebetbuch im Artikel gemeint ist. Aber natürlich ist das nicht wichtig. Das, was er mitteilen wollte, schrieb Langer am 3. Juli 1995 für seine Freunde und seine Familie auf zwei Blätter, eines auf Italienisch, das andere auf Deutsch.

Im deutschen Text versuchte er die Gründe seiner Tat zu erklären, indem er eine Passage aus dem Evangelium zitierte: „Die Lasten sind für mich nicht mehr erträglich, ich schaffe es nicht mehr. Bitte verzeiht mir ebenfalls alle für diesen Hingang. Einen Dank an all jene, die mir geholfen haben, voranzuschreiten. Ich hege absolut keine Bitterkeit gegen diejenigen, die zur Verschlechterung meiner Probleme beitrugen. Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Obwohl ich diese Einladung annehme, fehlt mir die Kraft. So gehe ich verzweifelter den je. Seid nicht traurig, setzt das fort, das richtig ist.“

Das Zitat ist unvollständig. Der vollständige Vers aus dem Evangelium nach Matthäus (MT 11,25 – 30) lautet: Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele. Denn mein Joch drückt nicht und meine Last ist leicht.“

Massimiliano Boschi

Erschienen am 14. Dezember 2019

 

Dieser Artikel wurde im Band ‘Südtirol doc. Eine Reise jenseits der Stereotypen” veröffentlicht.

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