Willkommen auf dem Bozner Christkindlmarkt, dem Reich eines Kitsches, der der Stadt nicht gut tut
Samstag der 7. Dezember 2019, 9:05 Uhr: Gestern war Nikolaustag, der morgige Tag ist der unbefleckten Empfängnis gewidmet und Bozen bereitet sich den niedrigen Temperaturen zum Trotz auf das heißeste Wochenende des Jahres vor. Am letzten Wochenende sind in der Stadt 310 Busse angekommen und auch dieses Wochenende wird in etwa mit dieser Zahl gerechnet.
Der Weihnachtsmarkt ist noch geschlossen; er öffnet um 10 Uhr, aber alles ist bereit. Ein zwischen den Hütten auf dem Waltherplatz geparkter Lastwagen lädt dazu ein, Südtirol zu genießen. Die gelben Jacken der „Associazione Alpini“ [Gebirgsjäger] verteilen sich auf strategischen Punkte des Platzes, während an anderen Punkten bereits einige Polizisten der Stadtpolizei präsent sind. Am Busbahnhof in der Mayr-Nusser-Straße ist die Situation noch ruhig. Die Busparkplätze sind leer und man kann daher nicht umhin zu bemerken, dass jedes Schild den Aufkleber trägt: „Don’t fuck up my city. Fuckin tourist“. Das sollten wir besser gar nicht erst übersetzen.
Um 9:24 Uhr sehe ich den ersten Bus ankommen, aus Zürich. Denn die Schweizer können sich keine Verspätung leisten und sind früh losgefahren. Sonst gibt es wenig zu berichten, abgesehen von einigen Personen auf dem Weg zum Parkplatz, die die Nacht wegen der Kälte in Kältenotfallzentren verbracht haben und jetzt einen Unterschlupf für den restlichen Tag suchen. Ich kehre zwei Stunden später auf den Weihnachtsmarkt zurück und er ist bereits äußerst voll. Um 11:05 entdecke ich die ersten Rentiergeweihe aus Plüsch auf dem Kopf einer Frau, die zerstreut einen Bozner Stadtplan studiert.
Ich kehre zum Busbahnhof zurück. Unter seiner Überdachung stehen jetzt zwanzig Busse, fast alle aus Österreich, Deutschland oder der Schweiz. Nur drei italienische Busse parken dort, einer aus Venetien und zwei aus Apulien. Die meisten Busse begnügen sich, ihre Fahrgäste im Außenbereich aussteigen zu lassen, und fahren gar nicht hinein. Die Aussteigenden notieren sich noch schnell die Zeit und die Nummer des Steiges für die Abholung und Rückfahrt am Nachmittag. Eine soeben aus dem Bus gestiegene Frau aus Ligurien beklagt sich lebhaft über die vorgesehene Uhrzeit: „Die Lichter werden erst um fünf Uhr eingeschaltet. Vorher können wir nicht zurückkommen, sonst entgeht uns der schönste Moment!“ Leider steht sie auf verlorenem Posten; damit die Rückfahrt nach Ligurien innerhalb der Nacht klappt, muss der Bus rechtzeitig losfahren.
Weitere Busse kommen an und entladen ihre Fracht. Der Ablauf ist einigermaßen geordnet. Ich will die für die Ankommenden geltenden Reisemodalitäten besser verstehen und frage die Gruppenleiterin einer großen Reiseagentur aus der Romagna. Sie erzählt mir, dass dieses Jahr zwanzig Busse für den Weihnachtsmarkt organisiert wurden: „Der erste Bus fuhr am Wochenende des 23./24. Novembers, der letzte am 21. Dezember. Insgesamt nehmen ca. 980 Personen teil. An diesem Wochenende haben wir vier Busse organisiert, für das nächste sind sechs Busse vorgesehen.“ Nur drei der zwanzig organisierten Reisen sind mit Übernachtung. Alle drei führen nach Österreich. Die Reisen, die auf einen einzigen Tag konzentriert sind, sehen den Besuch von zwei oder drei Weihnachtsmärkten vor: „Bozen ist nur eine der möglichen Ziele. Nicht immer bleiben wird hier stehen (ca. 4 Stunden Aufenthalt), aber wir sehen immer mindestens einen Weihnachtsmarktbesuch innerhalb Südtirols vor“.
Zweitägige Reisefahrten sehen den Besuch von bis zu fünf (5!) Weihnachtsmärkten vor: „Am letzten Wochenende besuchte eine Gruppe die Weihnachtsmärkte von Rovereto, Bozen, Meran, Brixen und Innsbruck, wo sie übernachtete“.
Den Südtiroler Lesern mag dies als exzessive Bestrafung erscheinen, jedoch ist die Strafe jener, die auch nur zwei Märkte pro Tag besichtigen, kaum geringer: „Die Abfahrt für Eintagestouren liegt zwischen 4:30 bis 5:30 Uhr morgens, während die Rückankunft zwischen 22:30 Uhr und Mitternacht vorgesehen ist. Das ist von der zurückgelegten Strecke, dem Verkehr und der Anzahl der Stopps abhängig“. Die Kosten für jeden Reisenden betragen ungefähr 50 Euro (Essen nicht inbegriffen).
Die Weihnachtsmärkte fördern einen Tourismus, bei dem die Gäste nur für die allerkürzeste Zeit vor Ort bleiben, um dann gleich wieder abzufahren. Das bestätigen auch die Daten einer kürzlich der Gemeinde vorgelegten Studie. Die Zahlen unterstreichen, dass in Bozen nicht nur weniger Unterkünfte im Dezember belegt werden als im Juni, Juli, August und September, sondern ebenfalls als im Mai und Oktober.
In derselben Studie wird empfohlen: „Maßnahmen vorsehen, um die Belegungszahlen zu erhöhen. Gleichzeitig wird die Wichtigkeit betont, kontinuierlich das Verhältnis zwischen Anwohnern und Touristen zu überprüfen und Situationen zu vermeiden, bei denen die Stadtkapazität erreicht wird. Dabei sollte bedacht werden, dass die Stadt Bozen eine hohe Anzahl von Tagestouristen aufweist. Daher sollten Maßnahmen ergriffen werden, die diese Tagestouren in Übernachtungen umwandeln können. Auf diese Weise entsteht den Beherbergungsstrukturen sowie den Gaststätten, Ladengeschäften und allen vom Tourismus profitierenden Bereichen ein höherer Gewinn. Außerdem soll darauf hingewiesen werden, dass die Altstadt von Bozen besonders verlockend ist und ein Potential sowohl für Übernachtungs- als auch für Tagestouristen sein kann. Es wird daher eine Untersuchung empfohlen, um den Touristenstrom zu verbessern, das heißt, ihn auf das gesamte Stadtgebiet auszuweiten. Notwendig scheint es daher zu sein, den Tagestourismus mithilfe einer Studie diesbezüglich zu analysieren, um ihn besser zu verstehen und geeignete Strategien zu entwickeln.“
Kurz gesagt, es ist besser, einen Gast hundert Tage zu beherbergen, als hundert Gäste nur einen Tag. Und es ist besser, wenn diese auf die ganze Stadt verteilt sind, als nur in einem begrenzten Bereich, wie es im Fall der Weihnachtsmärkte passiert. Es ist allseits bekannt, dass der Tourismus die wichtigste Industrie in diesem Jahrhundert ausmacht und niemand will oder kann sich ihm entziehen. Gerade aus diesem Grund müssten die Touristenströme organisiert und verwaltet sowie die ökologischen Auswirkungen bestimmter Events bedacht werden (die meisten Besucher des Weihnachtsmarkts kommen mit ihrem Privatauto …) Das diesjährige Symbolbild ist zweifellos der Bär inmitten des Kornplatzes, genau unterhalb vom Waaghaus, einem historischen Gebäude aus dem 13. Jahrhundert.
Eine Skulptur, die sich darauf beschränken könnte, wie die vielen anderen ein einfaches Selfie-Motiv zu sein; jedoch wurde es durch den Bären beseelt (natürlich aus Plüsch, denn die echten sind in Südtirol nicht sehr beliebt). Er ist richtig groß und trägt eine rote Dienstmütze mit dem Stadtwappen. Etwas tiefer trägt der leuchtende Bär ein großes, auffallendes Herz; er selbst sitzt auf Teppichen, die den Text „Enjoy Altstadt Bolzen“ tragen, natürlich auf Deutsch und Italienisch („Enjoy“ wurde nicht übersetzt).
Anscheinend gefällt Bozen diese Art der Darstellung und kitschiger kann sie kaum noch ausfallen. Sie gipfelt in der „Diktatur des Herzens“, ein typisches Zeichen für Kitsch, das hier mit dem Stadtwappen verschmilzt. Damit die Aussage noch klarer und kräftiger ist, laden die Teppiche die Vorbeikommenden dazu ein, die Altstadt zu genießen – ein gleichzeitig ungewolltes Bekenntnis über die Einstellung der meisten Stadtbewohner gegenüber Touristen. Diese erfreuen sich angesichts ihrer Reiseumstände in jedem Fall unserer Solidarität. Mehr noch, und trotz aller hier erwähnten Bedenken, sagen wir: „Willkommen auf dem Bozner Weihnachtsmarkt!“ (oder noch besser: „Willkommen auf dem Christkindlmarkt!“ – so der offizielle Namen des Events).
Massimiliano Boschi
Erschienen am 8. Dezember 2019
Dieser Artikel wurde im Band ‘Südtirol doc. Eine Reise jenseits der Stereotypen” veröffentlicht.
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