Die Vergangenheit, die vergessen wird: Über die Kriminalität herrscht eine kollektive Südtiroler Amnesie

„Schülerin streitet mit Mitschülerin. Nach Faustschlag gebrochene Nase.“ Nein, Schülerinnen haben nicht damit begonnen sich täglich zu schlagen. Die Nachricht ist nicht aktuell, sondern stammt vom Februar vor vierzig Jahren. Sie wurde von der Tageszeitung „Alto Adige“ am 24. Februar 1979 veröffentlicht (Aufsetzer auf Seite 5). Wie bekannt, wurde eine sehr ähnliche Nachricht vor zehn Tagen veröffentlicht. Diese hat jedoch in den Medien einen wesentlich größeren Stellenwert eingenommen.

Ich schreibe hier davon, weil die Nachricht von 1979 nicht gesucht, sondern aus reinem Zufall gefunden wurde. Die sich dahinter verbergende Idee war, das „alte“ Südtirol zu verstehen, bevor die Reise in das „neue“ Südtirol angetreten wurde. Es interessierte mich weniger die alte Geschichte Südtirols mit „Paketen“, Abkommen oder Bomben, sondern vielmehr heutige Erzählungen. Erzählungen, die jeden betreffen und bei denen es genügt, sich an den Tisch eines Cafés im Stadtzentrum oder am Stadtrand, in der Hauptstadt wie auf dem Land zu setzen, um sie aufzuschnappen. Dort kann man bekannte Refrains ohne Musik hören: „Jetzt ist es schon so weit, dass man Angst beim Rausgehen hat!“, „Nicht mal in der Schule sind unsere Kinder noch sicher!“, und, der Klassiker, „Vor einigen Jahren konnten wir noch weggehen und die Türen offen lassen!“. Diese Sätze trieben mich in die Bozner Stadtbibliothek, wo ich das Archiv der Tageszeitung „Alto Adige“ einsah, das dort auf CD gesichert ausliegt (nichts Persönliches gegen die größte lokale Tageszeitung, aber sie ist die einzige, bei der ein Vergleich möglich ist).

Hierfür verglich ich die Nachrichten am Ende des Februars vor vierzig, dreißig und zwanzig

Jahren. Ich wollte herausfinden, wann sich die Leute in ihren eigenen Wohnungen noch sicher fühlten und ohne Angst noch auf den Wegen und in den Parks des Landes spazieren gingen. Die ersten gefundenen Nachrichten stammen vom 23. Februar 1979; es sind keine sehr beruhigenden Ergebnisse: „In Neumarkt verhaftete Betrüger auch in weitere Straftaten verwickelt. Die Carabinieri ermittelten, dass beim Überfall auf den Geldtransporter der ‚Banca Popolare di Novara‘ 36.000 Schecks gestohlen wurden.“ (Seite 4). Diese Nachrichten fanden diesen Tag keinen Einzug auf die Titelseite, die monopolisiert wurde von Gesprächen, die der Minister La Malfa mit den Parteien DC und PCI führte sowie von anderen drei Lokalnachrichten: „Fünf Gentlemen gegen einen Sechzehnjährigen. Rache in Sankt Ulrich.“ Etwas weiter unterhalb: „Drei Männer aus Trient wegen Drogen verhaftet“, und seitlich, „Aufmarsch der Angeklagten aus Trentino beim Prozess Feltrini, GAP.“
Am nächsten Tag berichtet die Tageszeitung „Alto Adige“ außer der erwähnten Schlägerei zwischen Jugendlichen im Aufsetzer außerdem von einem „schweren Kriminalfall“ und dem Tatort Mariaheimweg. Hierbei wurde der Betreiber eines Cafés von einem jungen Mann mit einer Pistole bedroht und seiner Brieftasche beraubt (Seite 5). Viel mehr Platz erhielt ein anders Delikt, der es zum Aufmacher der Seite 3 brachte. Der Titel war: „So starb Andreas Hofer.“ 1978, ein Jahr zuvor, war es noch schlimmer. Nach der Zahlung eines milliardenschweren Lösegeldes hallte noch das Echo der Entführung von Ander Amonn nach, der am 18. Februar 1978 freikam. Die Schlagzeilen der Innenseiten widmeten sich „geringeren“ Fakten: Zahlreiche Diebstähle innerhalb weniger Wochen. Diebe kehren in die Gemeinde Lana zurück (21.2.1978, Seite 8).

Wieder gab es Diebstähle und Handtaschenraube in den vergangenen Tagen, jedoch wurden sie auf den Innenseiten nur kurz beschrieben: „Das Geschäft eines Altwarenhändlers leergeräumt“, „Erneuter Einbruch in ein Haushaltsgeschäft“, „Siebzigjähriger Frau wird Handtasche an Bushaltestelle geraubt. Gewalttat an der Kreuzung Mailandstraße-Palermostraße.“ So könnte es immer weiter gehen, aber das Konzept ist klar. Wir wechseln besser das Jahrzehnt. Im Jahr 1989 – man wartete auf den Fall der Berliner Mauer – lautete der Ton der Lokalnachrichten: „Halbes Kilo Heroin in einem Keller der Claudia-Augusta-Straße in Bozen gefunden“. Indessen wurde ein anderer Drogendealer im Küepachweg verhaftet (22.2.1989).
Weitere Schlagzeilen lauteten: „Spenden in Kirchen gestohlen“, (Regina Pacis in Bozen), „Verhaftung wegen Betrug und Diebstahl in Brixen“, „Drei Jugendliche aus Eppan wegen Diebstahl in Schwierigkeiten“ (alle am 23.2.1989). Es fehlt nur noch, sich weiter dem dritten Jahrtausend zu nähern. Diesmal im Fokus die Ausgaben vom Februar 1999 an den gleichen drei Tagen, vom 22. bis 24. Februar: „Heroin und Kokain unter dem Gürtel“, „Diebe kommen in der Nacht“ (in Branzoll), „Taubstummer beraubt alte Leute“. Alle als Aufsetzer verfasste Nachrichten, die heute auf den Titelseiten landen würden.

Auf der Titelseite findet sich am 22. Februar 1999 eine Nachricht aus Meran: „Attentat im Morgengrauen. Feuer in einem Gebäude des Innenministeriums“. Es gibt kaum noch etwas hinzufügen; selbst die Tageszeitungen des „mythischen“ Jahres 1968 wurden hinzugezogen, jedoch bestätigt der Ton der Schlagzeilen nur, dass es sich um eine ganz andere und schwer vergleichbare Realität handelte. Hier nur einige von ihnen: „Rückgeführter Langhaariger ist pleite“ und “Ein verruchtes Individuum rechnet ab. Anklage wegen unaussprechlicher Taten an zwei Mädchen“.
Zum Thema „69er-Bewegung“ und „Jugendbewegungen“ geben viele der in diesen Wochen getroffenen Gesprächspartner zu, dass Bozen niemals die Oase der Ruhe war, von der phantasiert wird. Ein wirklich großer Unterschied jedoch besteht, nämlich dass die Jugendlichen „einst respektvoller waren, heute jedoch vorlauter sind und die Obrigkeit nicht mehr achten“. Wenn dem so ist, dann ist es seit wenigstens zwanzig Jahren so. Am 22. Februar 1998 öffnen die „Regionalnachrichten“ der Zeitung „Alto Adige“ mit dem Artikel „Saboteure nach der Schule “. Jugendliche aus Pergine, „trafen sich jeden Tag in den Waggons, um Sitze, Leuchten und Verkleidungen zu verwüsten. Der Zugführer wurde schwer bedroht und eingeschüchtert“. Eine ganz präzise Sichtweise hat sich jedoch im letzten halben Jahrhundert radikal geändert:
Am 23. Februar 1968 entschied die „Alto Adige“, einen umfassenden Artikel zu veröffentlichen, der sich mit einem regionalen Gesetzesentwurf beschäftigte, um die „Familienangehörigen von saisonalen Auswanderern zu versichern“: „Die Anzahl der Arbeiter aus Trentino-Südtirol, die jährlich im Ausland eine feste oder saisonale Beschäftigung aufnehmen, beträgt fast 20.000 Personen. Dies ist eine sicherlich beeindruckenden Anzahl (fast 3 % der Bevölkerung). Gründe dafür sind eine für Gebirgsgegenden allgemein typische Prekarität sowie die geringe Industrialisierung des Gebiets. Daher ist die Bevölkerung seit etwa anderthalb Jahrhunderten von Erwerbsmöglichkeiten im Ausland abhängig.“ Die Vergangenheit besitzt in Südtirol einen ziemlich großen Einfluss auf heutige Geschehen. Beim Durchstöbern der Zeitungsarchive erhält man jedoch den Eindruck, dass die Erinnerungen etwas zu selektiv sein könnten

Massimiliano Boschi

Erschienen am 23. Februar 2019

Dieser Artikel wurde im Band ‘Südtirol doc. Eine Reise jenseits der Stereotypen” veröffentlicht.

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